»Roman Haubenstock-Ramati gewidmet«

Besetzung: für vier Violen
Aufführungsdauer: ca. 10 Minuten

 

Die Fantasia per 4 Viole ist das zweite Werk, das ich während meines postgraduellen Studiums bei Roman Haubenstock-Ramati geschrieben habe.

Die Idee der Ungleichzeitigkeit von akustischen Ereignissen wurde im ersten Satz der Fantasie, »Kanon«, zum Programm. Zwei in verschiedenen Geschwindigkeiten gespielte Kanons werden dabei übereinander gelegt: die erste und vierte Bratsche spielt einen Kanon im 6/8-Metrum, während die zweite und die dritte einen Kanon im 4/4-Metrum interpretieren. Da die Achtel in beiden Bratschen gleich sind, spielen daher die erste und vierte Bratsche vier Takte, während gleichzeitig die zweite und dritte Bratsche drei Takte spielen, bevor sie sich wieder treffen. Während die zweite und dritte Bratsche choralliedhafte halbe Noten spielen, beginnen die erste und vierte Bratsche mit einem hemiolischen Auftakt, dem ein eher tänzerisches Element mit lebendigen Achteln folgt. Daher treffen hier nicht nur zwei verschiedene Tempi, sondern auch zwei verschiedene Charaktere aufeinander: das Kirchenlied und der Tanz. Beide Kanons durchleben nun einige Phasen, in denen sich ihre Bewegungen so ändern, dass sie sich immer ähnlicher werden und schließlich alle vier Bratschen gestoßene 16tel-Noten in ungleichzeitig gespielten Vierergruppen spielen, die dann letztendlich in absteigende unkonventionelle Tonleitern münden.

Im zweiten Satz »Sonate« wird die Gleichzeitigkeit heterogener Elemente dadurch erreicht, dass Haupt- und Seitenthema von den ersten beiden Bratschen gleichzeitig gespielt werden, mit einer homogenen Begleitung durch die beiden anderen. Dadurch werden auch die Wertigkeiten der einzelnen Teile der Sonatenform destabilisiert und neu geordnet. Einer sehr kurzen Exposition steht ein sehr langer Durchführungsteil gegenüber, und auch die nur angedeutete Reprise bekommt durchführungsartige Züge. Wichtiger als dieser Ausgangspunkt werden die vielen Varianten der Versuche, die vier instrumentalen Linien zu vereinen, was de facto am Ende des Stücks in auskomponierten gemeinsamen Läufen realisiert wird.

Im abschließenden Satz »Variationen« fließt nun die Heterogenität des Stücks in ein Thema ein, dessen einzelne Komponenten dann verschiedenartig variiert werden, jedoch auch kontrapunktisch wieder in Ungleichzeitigkeit ausgearbeitet erscheinen.

Die Fantasia ist ohne Zweifel das avancierteste der Stücke, die während meiner »Studierzeit« entstanden sind: dazu zählen die Opera 1-6, die Miniaturen aus dem 1. Band der Violinschule und einige Werke ohne Opuszahl. Auch wenn in der Fantasia mit überkommenen konventionellen Formen operiert wird, so legt doch die kompositorische Gestaltung und die Idee des Stücks die zur reinen Hülle geschrumpfte formale Komponente offen. Nicht die Form ist hier das tragende Element, sondern die Prozesse, mit denen heterogene Elemente allmählich ineinander verschmelzen, und das Element der »Ungleichzeitigkeit« hin zu einer einenden Gemeinsamkeit drehen.
Mit den Structures op. 7 beginnt dann eine neue kompositorische Phase – eine Phase des Forschens, des Sezierens verschiedener Möglichkeiten der Arbeit mit Intervallen, die schließlich zur Findung neuer kompositorischer Prinzipien führen, wie sie schließlich ab den Bagatellen auf den Namen György Ligeti op. 14/3a (1989-95) in Erscheinung treten. (René Staar, Februar 2016)